flair Magazin im Oktober 2018

Es ist Oktober, Zeit für einen Jahreszeiten-Service in den Kleiderschränken. Das ewige Spiel: Sommerblusen, Trägerkleider, Sandalen und Bikinis wandern vom Hauptschauplatz der vorderen Regale in große Kartons und verschwinden für ein halbes Jahr in den dunklen Ecken des gut organisierten Schrank-Systems. In der front row der Garderobe hängen ab sofort Wollmäntel, dicke Jacken, Strickpullover und Schals. Reichlich Stoff zum Verhu?llen, um sich vor der anstehenden Winterkälte zu schützen. Auch die aktuelle Herbst/Winter-2018/19-Mode gibt in dieser Hinsicht ihr Bestes: Arme, Beine, Dekolletés und sogar Hals und Häupter verschwinden hinter mannigfaltigen Designs, Mustern und Materialien. Kapuzen, Kopftücher und Full-Face-Mützen werden neuerdings wie Keypieces gehandelt. Schicht über Schicht ist der „tragende“ Körper darunter nur spärlich zu erahnen. Ein signifikant wachsender Trend. Die logische Konsequenz: Wo verhüllt wird, wird auch enthüllt. Frei nach dem höheren Gesetz der Gegensätze: Ohne Chaos keine Ordnung, ohne Lust kein Frust, ohne falsch kein richtig – oder noch einfacher: ohne Tag keine Nacht. Der Gegenpol in modischer Hinsicht bekennt Haut: viel Bein- und Armfreiheit, Transparenz, aber wie eine zweite Haut eng an den Körper schmiegen und sich, ganz im Zeichen der Polarität, jener Freiheit bedienen, viel zu offenbaren. Steht die Modeentwicklung vor der Entscheidung „enthüllen oder verhüllen“? Oder gibt es noch einen dritten Kontrahenten: „Contraria sunt complementa“ – Gegensätze ergänzen einander, nach dem berühmten Motto des Physikers und Nobelpreisträgers Niels Bohr.
Wenn Mode Ausdruck von Zeitgeist ist, dann lohnt es sich, einen genaueren Blick hinter die Kulissen der Gegensätze zu werfen. So haben wir uns das Thema zur Aufgabe dieser Ausgabe gemacht. Um den tieferen Sinn und Zweck von Enthüllung und Verhüllung zunächst einmal in ihren Grundelementen zu verstehen, um zu erahnen, was der Treibstoff für den Trend in dieser Zeit überhaupt sein kann, führt uns die renommierte deutschösterreichische Künstlerin und Philosophin Elisabeth von Samsonow vom allgemeinen Phänomen der Bewertung von Nacktheit und Verschleierung zum Ursprung, nämlich der Verborgenheit und Offenkundigkeit. Feature-Chef Siems Luckwaldt durchforscht in seinem Essay die modische Historie der Nacktheit und ihre Bedeutung heute: zwischen Style und Skandal, Prüderie und Porno bis hin zur tragbaren Wirklichkeit, die seiner Ansicht nach meist dazwischen zu finden ist.
„Kleidung hat ihre Berechtigung. Mode auch. Selbstbestimmung ebenso“, erklärt CDU-Parteivize und Ministerin Julia Klöckner im Interview mit flair und spricht an, was sich viele schon gar nicht mehr zu sagen trauen. Auch die Burlesque-Künstlerin Dita Von Teese tut etwas, das sich die wenigsten trauen: Sie strippt, ohne sich je dabei ganz zu enthüllen. Sie codiert das Genre Striptease völlig neu und schafft es zum Superstar. Im Interview mit flair spricht sie darüber, was Enthüllung in ihr auslöst und was ihre beste Verhüllung ist.

Wir wünschen Ihnen viele neue Denkanstöße mit einen Blick auf die Mode, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnte.

Ingrid Geringer, Chefredaktion