In der neuen Ausgabe

Zukunftsprognosen: Volltreffer oder voll daneben?

# 09/16

Vor über 25 Jahren wurden Trends zum letzten Schrei. Plötzlich scharten sich Medien und Mega-Konzerne um sogenannte Trendscouts und -gurus, ließen sich von ihnen prophezeien und mehr oder minder schlüssig begründen, was wir morgen wollen würden. Doch wie sieht deren Arbeit im Rückblick aus, wie zielsicher war ihr Blick ins „Tomorrowland“? flair hat nachgefragt

Interview: Siems Luckwaldt
Fotos: Corinna Mühlhausen, Michael Schipper

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Foto: Corinna Mühlhausen

Corinna Mühlhausen startete ihre Karriere 1995 beim Hamburger Trendbüro und ist seitdem als Trend- und Zukunftsforscherin sowie Journalistin selbstständig tätig. Sowohl mit Matthias Horx wie auch Peter Wippermann hat sie mehrfach an Projekten gearbeitet. Zuletzt erschien „Healthstyle 2“ (mit Wippermann)

1. Welches war der allererste Trend, den Sie voraussahen?
Als ich vor rund 20 Jahren, lag bereits eine Entwicklung in der Luft, die 2002 als „Agenda 2010“ in die größte Sozialreform der Bundesrepublik mündete. Im Zuge dessen fanden wir in unserer Arbeit den richtigen Begriff für alle Neuentwicklungen im Bereich der zunehmenden Individualisierung: die „Ich-AG“.

2. Welche Prognose wurde genauso Realität wie Sie es sich dachten?
Das war sicherlich vor zehn Jahren der Begriff „Healthstyle“, mit dem Prof. Peter Wippermann und ich seitdem die Veränderungen rund um das Thema Gesundheit zusammen fassen. Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit ist ein Synonym für persönliches Wohlgefühl, Leistungsfähigkeit, ja sogar Schönheit und Glück.

3. Im Gegensatz dazu, wo lagen Sie völlig "falsch" oder waren Ihrer Zeit zu sehr voraus?
Da unsere Prognosen zu gesellschaftlichen Megatrends auf Marktforschung basiert, lagen wir nie wirklich daneben. Wer sich um kleinere Entwicklungen und reine Moden kümmert, läuft eher Gefahr, einen Hype größer zu machen als er tatsächlich ist.

4. Über welchen Trend – ob in der Mode oder der Gesellschaft – werden wir im Jahr 2020 sprechen?
Wir werden auch dann über Healthstyle und Selbstoptimierung sprechen. Und beides noch individueller als jetzt. Das schließt ein weniger-ruhiger-langsamer genauso als Option mit ein wie das alte höher-schneller-weiter.

5. Das beste Buch für angehende Trendforscher?
„The Fourth Turning“ der US-Wissenschaftler William Strauss und Neil Howe aus dem Jahr 1999. Kein anderes Werk analysiert so brilliant und weiterhin gültig, wie es zur Ausbildung unterschiedlicher Generationen mit eigenen Wertvorstellungen kommt.

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Foto: Michael Schipper

Professor Axel Venn ist einer der international renommiertesten Farb-Experten, Trendscouts und Autor von 25 Büchern zu diesem Themenspektrum. Der Ehrenvorsitzende des Deutschen Farbenzentrums e.V.  lehrt an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim. Zuletzt erschien „Das Farbwörterbuch 2“.

1. Welches war der allererste Trend, den Sie voraussahen?
Als das weiß-grau-schwarze Highend-Design der Deutschen vom munteren, spielerisch farbenfrohen Memphis-Design der Italiener abgelöst wurde. Darauf hatte ich sehnlichst gewartet.

2. Welche Prognose wurde genauso Realität wie Sie es sich dachten?
Dass Individualität, wenn auch nur in wenigen Details eines komplexen Objektes und Fertigungsprozesses, zumindest den Anschein von Authentizität und Einzigartigkeit schafft. Heute nennen Marken das customizing.

3. Im Gegensatz dazu, wo lagen Sie völlig "falsch" oder waren Ihrer Zeit zu sehr voraus?
Ich dachte immer, die Zukunft befinde sich in einer endlosen Expansion des Wohlstandes. Doch genau das Gegenteil ist für die meisten Menschen der Fall. Das hinterlässt ohnmächtigen Zorn. Geiz, Gier und Großmannsucht gehören offenbar zu weitverbreiteten Eigenschaften unserer Spezies.

4. Über welchen Trend – ob in der Mode oder der Gesellschaft – werden wir im Jahr 2020 sprechen?
Das gesunde Altern bleibt unsere Hauptausgabe. Das Wohnen bleibt unser bevorzugtes Statussymbol. Achtsamkeit, Güte und nachhaltiges Handeln bleiben wünschenswert.

5. Das beste Buch für angehende Trendforscher?
„Die Cassirers“ von Sigrid Bauschinger, weil es an eine Familie erinnert, wie es sie heute auch trendbedingt kaum noch gibt und geben kann. Und die „Tagebücher“ von Fritz J. Raddatz, von denen zwei Bände erschienen sind. Er beschreibt darin gut 30 Jahre mit vielen Figuren und Trends des Kulturbetriebs.

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26.08.2016