Interview

Interview anlässlich der Ausstellung "Fairy Tale Fashion"

Colleen Hill ist Kuratorin der Ausstellung „Fairy Tale Fashion“ am Museum des Fashion Institute of Technology in New York, Dr. Kiera Vaclavik ist Professorin für Literaturwissenschaft und „Alice im Wunderland“-Expertin. In der März-Ausgabe von flair stehen die zwei magischen Parallelwelten „Märchen“ und „Mode“ im Fokus und wir haben uns dazu mit beiden unterhalten

Interview: Siems Luckwaldt
Fotos: Eileen Costa, The Museum at FIT,
Queen Mary/University of London/Kiera Vaclavik

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Colleen Hill / Foto: Eileen Costa
Queen Mary, University of London/Kiera Vaclavik

Welches war Ihr Lieblingsmärchen als Kind?

Colleen Hill: Ich liebte Schneewittchen, aber gar nicht so sehr wegen der Geschichte. Ein tschechischer Freund meiner Mutter schenkte mir damals ein Set Briefpapier, das mit kleinen Schneewittchen-Details verziert war. Seither ist die ikonische Optik des Apfels und der Umriss eines Mädchens inmitten von sieben Zwergen für mich unvergesslich. Die winterliche Handlung ist mir vielleicht auch deshalb näher als andere, weil ich in Michigan aufwuchs, wo wir quasi von Oktober bis April mit Schnee und Eis kämpfen.

Kiera Vaclavik: „Die Prinzessin auf der Erbse“. Ich konnte damals nicht sonderlich gut schlafen und die Idee, dass ein so winziges Ding wie eine Erbse auch unter haushohen Matratzenstapeln noch den Schlaf rauben kann, fand ich erstaunlich. Außerdem mochte ich Erbsen. Seitdem bin ich in meiner Arbeit oft zu dem Konzept der Größenverhältnisse in der Literatur zurückgekehrt, vor allem für Kinderaugen.


Welche Märchenfigur wollten Sie damals sein?

CH: Das war Arielle die Meerjungfrau, der Film kam 1989 in die Kinos, als ich noch ein Kind war. Ich mochte die Idee, eine Meerjungfrau zu sein. Wir hatten einen Pool, und ich stellte mir oft vor, wie Disneys kleine Meerjungfrau durch imaginäre Wellen zu schwimmen.

KV: Das ist eine gute Frage. Wahrscheinlich Cinderella. Ich weiß noch genau, dass wir einmal in der Schule ein Brettspiel entwerfen sollten, und ich ein extrem aufwendiges Board mit Cinderella bastelte, inspiriert von Disney-Zeichnungen zu dem Märchen. Bis heute ist mein Ideal des perfekten Hochzeitskleides von diesen Bildern beeinflusst.


Haben die Beschreibungen der Garderobe von Prinzessinnen, Hexen und Königssöhnen Ihren eigenen Kleidungsstil beeinflusst?

CH: Was mich mehr beeinflusst hat war ein Buch über die Mode der 1960er Jahre, das ich mit zehn Jahren im Bücherschrank meiner Eltern fand. Vor der Ausstellung „Fairy Tales Fashion“ hatte ich über die Kleidung in Märchen nie wirklich nachgedacht. Erst die Fall/Winter 2014 Kollektion von Dolce & Gabbana machte mir diese Verbindung klar. Das Thema: „Es war einmal in Sizilien“, Rotkäppchen inklusive.

Mode wird in Märchen und Filmen oft zu einem Symbol für die Rolle und den Charakter einer Person, oder?

KV: Das ist absolut richtig. Und kein Zufall, denn Kleidung ist unsere zweite Haut und übernimmt, verstärkt oder versteckt gewisse Charakterzüge und Teile unserer Persönlichkeit.


Warum blickt die Modewelt ins Märchenland als Inspirationsquelle für Farben, Schnitte und Beauty-Looks?

CH: Je sagenhafter Mode ist, je weiter von uns entfernt, umso reizvoller erscheint sie uns. Aschenputtels über und über mit Edelsteinen besetzte Goldrobe ebenso wie Haute-Couture-Kleider. Mit unserem Leben hat all das wenig zu tun, es bleibt unerreichbar. Und deshalb so anziehend.


Doch warum wimmelt es auf Laufstegen, Leinwänden und im Fernsehen gerade jetzt so vor Märchen, beispielsweise in „The Huntsman & The Ice Queen“ (Filmstart: 7. April 2016)?

CH: Unsere Welt ist hektisch, voller Hightech und sehr funktional geworden, da brauchen wir einfach einen Gegenpol. Wir kennen Märchen seit Jahrhunderten, sie sind uns vertraut und bleiben aktuell, weil man sie immer wieder in ein neues Gewand kleiden kann.

KV: Auf eine Weise erfinden neue Technologien, Mode und Medien die Märchen von einst einfach neu. Und jeder neue Film, jede App, jeder Werbespot wie für Chanel No. 5 samt Rotkäppchen bewirbt aufs Neue Figuren, deren Ursprünge leicht bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen. So bleiben sie auch für neue Generationen immer up to date, behalten dabei jedoch ihren magischen Kern. Dazu kommt die Ikonographie ihrer Mode, die wir – Beispiel: der gläserne Schuh – sofort wiedererkennen.


Gibt es in unserer globalisierten, Hightech-Welt voller Onlineshops und vertikal optimierter Wertschöpfungsketten überhaupt noch Raum für (Mode-)Märchen?

CH: Ich glaube dieser Anachronismus ist genau der Punkt. Dass fantastische Präsentationen wie die von Dior oder Chanel eigentlich nicht mehr in unsere moderne Welt passen. Und eben genau deshalb doch. Man kann sich in diese Kleider hinein träumen, auch wenn man sie nie tragen wird. Und dieser Kunstfaktor von Mode wie auch Märchen, der bleibt.


Wie haben Sie die 14 Märchen ausgewählt die in der Ausstellung „Fairy Tale Fashion“ mit Couture, Prêt-à-Porter und Accessoires kombiniert und inszeniert werden?

CH: Ich habe mit Charles Perraults legendärem Märchenbuch von  1697 angefangen. Er schrieb damals Aschenputtels gläsernen Schuh in die Geschichte und fügte weitere Rituale des französischen Königshofes hinzu, mit dem er bestens vertraut war. Er erwähnt beispielsweise eine der Bratensoßen, die damals an der Tafel von Ludwig XIV. der dernier crie war. So hatte ich dann „Aschenputtel“, „Rotkäppchen“ und „Dornröschen“, die alle explizite Beschreibungen zur Garderobe der Figuren enthalten. Von den Brüdern Grimm wählte ich „Schneewittchen“, „Rapunzel“, „Schneeweißchen und Rosenrot“ und das weniger bekannte Märchen „Allerleirauh“. Die Geschichte enthält besonders viele Modedetails, handelt aber leider von Inzest, für Kinder also absolut ungeeignet. Die Story: Der Vater einer Prinzessin will sie heiraten. Um ihn davon abzuhalten, verlangt sie komplizierteste Kleider, die einmal der Sonne, dann dem Mond oder den Sternen ähneln sollen. Und schließlich einen Mantel, bestehend aus dem Fell von jedem Tier des Königreiches. Darin flüchtet sie schließlich auch. Ein sehr fashion-lastiges Märchen mit einer sehr selbstbewussten, cleveren Heldin.


Und wie haben Sie entschieden, welche Stücke von welchem Designer und Modehaus für das jeweilige Märchen stehen sollen?

CH: Ich habe die für die Ausstellung besten Märchen ausgesucht, die prägnantesten Passagen daraus gewählt und dann überlegt, welche Szenen und Outfits ich zeigen will. Manche der Stücke sind direkt von Märchen inspiriert, andere passten einfach gut. Aschenputtel beispielsweise wollte ich als Küchenmagd in Lumpen ebenso zeigen wie als glamouröse Ballkönigin. Also zeigen wir jetzt ein kunstvoll zerrissenes, braungraues Chiffon-Abendkleid von Giorgio Di Sant Angelo (1971) – und dann etliche Couturekleider in Gold und Silber. Im Märchen trägt sie nämlich nicht das Disney-Blau, das wir aus dem Zeichentrickfilm kennen!


Sind Sie kurz in die durchsichtigen Pumps von Cinderella geschlüpft oder haben sich Rotkäppchens Cape übergeworfen?

CH: Oh nein, das geht leider nicht. Sowie die Stücke ins Museum kommen, sind sie hoch versicherte – und gesicherte – Leihgaben. Ich habe sie nicht einmal angefasst. Aber bewundert!

Lassen Sie über die märchenhaften Bildwelten der Fotografin Kristy Mitchell sprechen, deren Aufnahmen die Show im Museum at FIT eröffnen.

CH: Kristy ist eine tolle Frau, deren Arbeit von keinem konkreten Märchen inspiriert ist. Und doch bedient sie sich bei bekannten Figuren und Szenerien: verwunschene Wälder, bunte Blumen, eine Dosis wunderschönen Verfalls wie bei Schlössern, Bäumen und auch Menschen. Was Betrachter immer kaum glauben können, ist, dass Kristy nicht mit Photoshop trickst. Alles, was wir auf ihren Fotos sehen, hat sie selbst gefertigt. Jedes der Wahnsinnskleider, alle Requisiten und Kopfputze. Sehen wir Schnee, hat sie stundenlang dafür Mehl gestreut. Ein unglaublicher Aufwand, mit dem sie zum Beginn dieser monumentalen Serie die Trauer über den plötzlichen Tod ihrer Mutter verarbeitet hat. Die war auch noch Englischlehrerin und hat ihren kleinen Schülern oft und gern Märchen vorgelesen.


Welches ist Ihr Lieblingsstück, das im Museum des FIT in der Ausstellung „Fairy Tale Fashion“ zu sehen ist?

KV: Da muss ich einfach für die „Alice im Wunderland“-Szene stimmen, in der ein blaues Neoprenkleid des britischen Designers Manish Arora zu sehen ist. Darauf sind federnde Spielkarten befestigt, die mit der Trägerin wippen. Meine Faszination mit Alice und ihrem Einfluss auf die Mode begann 2003. Damals sah ich die berühmte Fotostrecke von Annie Leibovitz in der US-„Vogue“, für die Designer extra Kleider im „Alice“-Stil entworfen hatten, die Topmodel Nadia Vodaniova trug. Einige, wie der Hutmacher Stephen Jones, spielten sich gleich selbst. Es ist einfach sehr ungewöhnlich für eine Romanfigur, dass sie auch 150 Jahre nach der Erstveröffentlichung weltweit immer wieder das künstlerische Schaffen von Kreativen beeinflusst, von Fotografen, Regisseuren, Modeschöpfern und Stylisten. Vom Londoner Store von Vivienne Westwood über das Video „What You Waiting For“ von Gwen Stefanie bis zu den Instagram-Fotos von Victoria Beckham.

Glamourös und grausam, magisch und tragisch: Sind das die reizvollen Extreme, die Märchen und Mode verbinden?

CH: Schönheit, Tragik und Glamour – das sind Aspekte, die meine Kollegen am FIT und ich für eine andere Ausstellung mit dem Titel „Gothic Glamour“ bereits einmal näher untersucht haben. Düsternis, Melancholie und bizarre, verstörende Details sind für Künstler, Designer, Märchenautoren und das Publikum wie die perfekte Prise Salz. Trotz  recht brutaler Handlungsstränge enden die meisten Märchen dennoch glücklich. Einige Geschichten von Hans Christian Andersen sind da wie eine Anomalie, seine „Kleine Meerjungfrau“ etwa wird zum Schluss zu Gischt auf dem Meer. Als ich das zum ersten Mal las war ich sehr überrascht.

KV: Beides braucht ein Gegenteil zu „schön“ und „niedlich“, könnte man sagen, eine dunkle Seite. Die kann natürlich genauso glamourös ausfallen. Unsere Erfahrungen mit vielen Märchen sind geprägt durch die auf Hochglanz polierte, hygienisch reine Disney-Welt, da ist ein Ausflug zu ihren weniger politisch korrekten Vorlagen ein aufregendes Abenteuer. Märchen geben uns einen Raum, einen sicheren Platz, um uns unseren Ängsten zu stellen. Schließlich ist alles „nur“ eine Geschichte.  


In Märchen geht es oft um Verwandlung, in der Mode letztlich auch.

KV: Schon zu viktorianischen Zeiten (1840 bis 1901) waren Märchen eine beliebte Inspiration für Kostüme, etwa auf Bällen der damaligen höfischen High Society. Ein Kostüm erlaubt die Übertretung von Grenzen wie gesellschaftlicher Klasse, Geschlecht oder Nationalität – und dieses Potential hat auch Mode. Diese Idee der vorübergehenden Flucht in die Fantasie, vorübergehend in ein anderes Leben zu schlüpfen.


Manche Menschen würden auch Designer den Märchenfiguren zuordnen.

CH: Da stimme ich voll und ganz zu. Bei all dem derzeitigen Druck und der Schnelligkeit ständig kreativ zu sein und begehrliche Produkte zu kreieren, das nenne ich magisch! Viele Designer sind oder waren großartige Geschichtenerzähler, Alexander McQueen beispielsweise. Und wohl alle haben eine Fantasiekundin vor Augen, wenn sie im Atelier drapierend vor einer Büste stehen.

KV: Stimmt, da scheint reichlich Zauber involviert zu sein. Wobei wir wie von Märchen auch von der Mode teils fantastische Vorstellungen haben. Wir denken uns den einen genialen Magier dahinter, dabei sind mindestens Teams, manchmal ganze Heerscharen daran beteiligt, damit eine Haute-Couture-Show Wirklichkeit wird. Ganz viele statt bloß einer guten Fee, könnte man sagen.


Frauen sind in Märchen oft einsam und auf Schönheit und Gehorsam beschränkt. Sehen Sie da Parallelen zur Mode?

CH: Die gibt es definitiv, und das machte es mir als erklärte Feministin auch nicht immer einfach, die Märchen zu lesen und an dieser Ausstellung zu arbeiten. Die Prinzessin, die passiv und sehnsuchtsvoll auf ihren Prinzen wartet. OMG! Doch wenn man die Geschichten in ihrem historischen und kulturellen Kontext betrachtet, dann versteht man, dass Frauen in einer misslichen oft keine andere Wahl hatten, als auf einen starken, zumindest aber vermögenden Mann zu hoffen. Und dabei eine möglichst gute Figur zu machen. Leider setzen viele Märchen äußere Schönheit mit einem guten Charakter gleich, wer hässlich ist, muss demnach eine schlechte Person sein. Schneewittchens schöne, böse Stiefmutter ist eine von wenigen Ausnahmen.

KV: Ganz im Gegenteil, Märchen waren oft ein Weg, die Unterdrückung literarisch zu verarbeiten oder gar anzuprangern. Dabei vergessen wir zudem oft, dass viele dieser vermeintlich frauenfeindlichen Mythen von Frauen geschrieben wurden. Etwa „Die Schöne und das Biest“, aufgeschrieben von Gabrielle-Suzanne de Villeneuve anno 1740 und später als gekürzte Fassung von  Jeanne-Marie Leprince de Beaumont (1756) populär geworden. Bei Märchen zählt, welche Fassung aus welchem Land ich wann lese. Diesen Kontext braucht man.


Mit welchen modernen Märchen oder Fantasyromanen entfliehen sie der Welt?

KV: Ich mag Fantasybücher überhaupt nicht, bin zu sehr hartgesottene Realistin. Tolkiens „Herr der Ringe“ – nicht zum Aushalten. Gleichzeitig aber liebe ich den britischen Autor Philipp Pullman und seine Trilogie „His Dark Materials“, deren erster Band als „Der Goldene Kompass“ mit Nicole Kidman verfilmt wurde. Ein echtes Meisterstück, auch für Fantasy-Hasser wie mich.


In welchem Kleid fühlen Sie sich wie eine Märchenprinzessin?

CH: Das ist eine gute Frage, denn während der Vorbereitungen für „Fairy Tale Fashion“ habe ich mich verlobt. Da war mir das Thema „Prinzessin“ gleich näher. Wir heiraten auch noch in einer Event-Location, die „Gingerbread House“ heißt! Mein Hochzeitskleid ist ganz schlicht und stammt aus den Sixties, für die Eröffnung der Ausstellung aber habe ich mich für ein bodenlanges, waldgrünes Seidenkleid mit einem bestickten Vintage-Samtcape entschieden.   meine Hochzeit habe ich mich  habe ich mich für ein simples leid aus den 1960s. Aber für die Eröffnung der Ausstellung habe ich ein bodenlanges waldgrünes Seidenkleid mit einem Vintage-Cape aus Samt bestickt. Ein echter Märchenlook, also.

KV: Als Mutter von zwei keinen Jungs – alles was nicht nach Jeans und Sweatshirt aussieht. Erst vor Kurzem allerdings habe ich ein langes Kleid aus den 1970ern bekommen, von einer Freundin, die eine Vintage-Boutique führt. Es ist schwarz und auf dem Rock sind Mohnblüten aufgestickt. Frauen, Hosen, Kleider und Märchen – das ist ein echter Hexenkessel an bedeutungsschweren Subtexten, Symbolen und Psychologie.


Sie haben zwei Söhne. Keine Gefahr also für Prinzessinnen-Hysterie in leuchtendem Pink?

KV: Wer weiß. Sie mögen beide „Frozen“, können den Film auswendig, und sind große Fans von „Alice“. Und wenn ich meinen älteren Sohn frage, was er einmal werden will, dann antwortet er zur Zeit: „Modedesigner“.

Colleen Hill ist Kuratorin der Ausstellung „Fairy Tale Fashion“
am Museum des Fashion Institute of Technology in New York
http://www.fitnyc.edu/museum/exhibitions/fairy-tale-fashion.php

Dr. Kiera Vaclavik ist Professorin für französische und vergleichende Literaturwissenschaft an der Queen Mary University of London und „Alice im Wunderland“-Expertin. Sie schrieb ein Essay zu diesem Thema für den Katalog der Ausstellung „Fairy Tales Fashion“ im Museum des Fashion Institute of Technology in New York.
http://french.sllf.qmul.ac.uk/people/kiera-vaclavik
http://www.alice150.com

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26.02.2016