In der aktuellen Ausgabe

Grenzgänger am Limit

# 03/18

Genies haben es im Alltag nicht leicht. Denn Dummheit und Wahnsinn liegen zumeist nahe beieinander – und wahre Kreativität wird oft verkannt. Schriftsteller Thomas Glavinic kennt Freud und Leid der Grenzgänger – und erklärt exklusiv in der flair-Ausgabe im März, warum geniale Menschen oft keine fröhlichen Zeitgenossen sind.

Text: Thomas Glavinic

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Foto: Manfred Klimek

Wenn man den modisch-flapsigen Begriff „grenzgenial“ erörtert, wird seine Unzulänglichkeit rasch ersichtlich. „Grenzgenial“ ist wie die meisten Komposita ein unscharfes Wort. Man weiß, was damit gemeint ist, doch das ist mehr ein Verdienst unserer kollektiven Sprachintelligenz als unserer Wortschöpfung, der es wie allen zusammengesetzten Wörtern an der Urbedeutung mangelt. Ein vernichtendes Manko. Ein solches Wort ist vergleichbar mit einem Menschen, der keinen Schatten wirft. Während dieser der Sage nach immerhin aus freien Stücken seine Seele an den Teufel verschachert hat, kann die arme Worthülse hingegen nichts dafür, dass sie keine Seele hat, sie hat uns nicht gezwungen, sie zu beleben, oder besser: einen Belebungsversuch zu unternehmen.

„Genies sind kreativ. Und kreative Menschen sind unbeliebt.”

Nur zur Illustration ein paar Beispiele für gute, weil ursprüngliche Wörter: gut, schlecht, böse, stark, leer, schön. Sie sind ihre Bedeutung, und sie sind ihr Klang. Sie drücken auf allen Ebenen ihre Bedeutung aus. Das leisten Komposita nicht, deswegen sind sie zweitklassige Wörter. Man kann sie als Notlösungen betrachten, zu denen man greift, wenn im Sprachschatz das Ausdrucksmittel zur Veranschaulichung eines komplexen Sachverhaltes fehlt. Personen, die wir als grenzgenial bezeichnen, sind zumeist sehr komplexe Menschen.

Grenzgenial beschreibt sie daher unzureichend. Wenn wir beide Begriffe für sich betrachten, kommen wir vielleicht weiter.

1 – DIE GRENZE

Schon in unserer Kindheit mussten wir erleben, dass unsere vergnüglichsten Unternehmungen den Erwachsenen manchmal großes Missvergnügen bereiteten. Aus ihrer bornierten Weigerung, in der neuen Frisur des Hundes oder in dem Edding-Gemälde an der Wand einen elementaren Fortschritt für die Menschheit zu erkennen, lernten wir schmerzhaft, dass etwas für den einen die Grenzen des Erträglichen überschreiten und zugleich für einen anderen der Punkt sein kann, an dem der Spaß erst so richtig beginnt …

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19.03.2018